15. Februar 2011
Schussgeräusche - Eine potentielle Gefahr für Rechtsgüter Dritter ?!
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VI ZR 176/10
BGB § 823 Abs. 1 (Dc); UVV Jagd
Im Allgemeinen begründen Schussgeräusche einer Jagd für sich noch keine potentielle Gefahr für Rechtsgüter Dritter.
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 15. Februar 2011 durch den Vorsitzenden Richter Galke, den Richter Zoll, die Richterin Diederichsen, den Richter Pauge und die Richterin von Pentz
für Recht erkannt:
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Arnsberg vom 26. Mai 2010 wird auf ihre Kosten zu-rückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin nimmt den Beklagten wegen eines Reitunfalls auf Zahlung von Schmerzensgeld in Anspruch.
Am 15. November 2008 führte der Beklagte als Jagdleiter eine Treibjagd durch. Die Klägerin und ihre Freundin ritten auf einem Waldweg in der Nähe des Jagdgebietes. Nachdem sie etwa die Hälfte der geplanten Reitroute zu-rückgelegt hatten, hörten sie einen Schuss. Sie entschlossen sich, den Ausritt fortzusetzen. Kurze Zeit später scheute das Pferd, wodurch die Klägerin stürzte und sich dabei verletzte. Sie nimmt den Beklagten wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht in Anspruch und behauptet, Hinweis- oder Warnschilder an den Wegen zum Jagdgebiet hätten gefehlt. Ihr Pferd habe aufgrund eines weiteren Schusses gescheut, der von einem Teilnehmer der Treibjagd des Be-klagten abgegeben worden sei.
Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin blieb erfolglos. Das Berufungsgericht hat die Revision zugelassen zur Klärung der Frage des Umfangs der Verkehrssicherungspflicht eines Verantwortlichen einer Treibjagd im Zusammenhang mit Schussgeräuschen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Zahlungsbegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht hat Ansprüche der Klägerin gegen den Beklagten verneint. Eine Verkehrssicherungspflicht, die dem Zweck diene, andere vor den von Schussgeräuschen bei einer Treibjagd ausgehenden Gefahren zu schützen, bestehe nicht. Zwar treffe den Veranstalter einer Treibjagd die Pflicht, Verkehrsunfälle durch fliehendes Wild beim Überqueren von Straßen zu vermei-den. Auch müsse der grundsätzlichen Gefahr von Schussverletzungen dadurch begegnet werden, dass Standort bzw. Laufrichtung der Schützen und Treiber genau bestimmt und den Jagdteilnehmern die Standorte ihrer Nachbarn mitge-teilt würden. Hingegen müsse sich ein Geländereiter im Wald selbst darauf ein-stellen, dass dort Schussgeräusche möglich und deutlich hörbar seien und ein Pferd darauf schreckhaft und unberechenbar reagiere. Es liege in der Sphäre und im Risikobereich des Reiters, ein Pferd, das nicht an solche waldtypischen Geräusche gewohnt sei, im Gelände zu bewegen. Der Jagdleiter sei nicht verpflichtet, solche - mittelbaren - Gefahren auszuschließen.
II.
Die Beurteilung des Berufungsgerichts hält revisionsrechtlicher Überprü-fung stand.
1. Erfolglos rügt die Revision, das Berufungsgericht habe überraschend ohne Beweisaufnahme die Berufung zurückgewiesen, obwohl es Zeugen gela-den und das persönliche Erscheinen der Parteien mit Verfügung vom 17. März 2010 angeordnet habe. Es habe dadurch das rechtliche Gehör der Klägerin ver-letzt. Nach der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, auf die die Klägerin im Rahmen der Erörterung der Sach- und Rechtslage hingewiesen worden ist, war die Aussage der Zeugen für die Entscheidung nicht erheblich und mithin eine Beweisaufnahme nicht erforderlich. Mit Recht weist die Revisionserwiderung darauf hin, dass ein Überraschungsurteil des Berufungsgerichts schon deshalb nicht gegeben sei, weil bereits das Amtsgericht eine Verkehrssicherungspflicht des Beklagten verneint hatte.
2. Das Berufungsgericht hat im Streitfall eine Verkehrssicherungspflicht als Grundlage der Haftung des Beklagten mit Recht verneint.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist derjenige, der eine Gefahrenlage - gleich welcher Art - schafft, grundsätzlich verpflichtet, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädi-gung anderer möglichst zu verhindern (vgl. etwa Senat, Urteile vom 4. Dezem-ber 2001 - VI ZR 447/00, VersR 2002, 247, 248; vom 15. Juli 2003 - VI ZR 155/02, VersR 2003, 1319; vom 5. Oktober 2004 - VI ZR 294/03, VersR 2005, 279, 280; vom 8. November 2005 - VI ZR 332/04, VersR 2006, 233, 234; vom 6. Februar 2007 - VI ZR 274/05, VersR 2007, 659 Rn. 14 und vom 2. März 2010 - VI ZR 223/09, VersR 2010, 544 Rn. 5 ff.; vgl. auch BGH, Urteil vom 25. Februar 1993 - III ZR 9/92, BGHZ 121, 367, 375 und Urteil vom 13. Juni 1996 - III ZR 40/95, VersR 1997, 109, 111). Die rechtlich gebotene Verkehrssi-cherung umfasst diejenigen Maßnahmen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren.
Zu berücksichtigen ist jedoch, dass nicht jeder abstrakten Gefahr vor-beugend begegnet werden kann. Ein allgemeines Verbot, andere nicht zu ge-fährden, wäre utopisch. Eine Verkehrssicherung, die jede Schädigung aus-schließt, ist im praktischen Leben nicht erreichbar. Haftungsbegründend wird eine Gefahr daher erst dann, wenn sich für ein sachkundiges Urteil die nahe liegende Möglichkeit ergibt, dass Rechtsgüter anderer verletzt werden (vgl. Se-natsurteil vom 6. Februar 2007 - VI ZR 274/05, aaO Rn. 15 mwN). Deshalb muss nicht für alle denkbaren Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge getroffen werden. Es sind vielmehr nur die Vorkehrungen zu treffen, die geeig-net sind, die Schädigung anderer tunlichst abzuwenden (vgl. Senat, Urteile vom 10. Oktober 1978 - VI ZR 98/77 und - VI ZR 99/77, VersR 1978, 1163, 1165; vom 15. Juli 2003 - VI ZR 155/02, aaO und vom 8. November 2005 - VI ZR 332/04, aaO). Der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist genügt, wenn im Er-gebnis derjenige Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält (vgl. Senat, Urtei-le vom 15. Juli 2003 - VI ZR 155/02, aaO und vom 8. November 2005 - VI ZR 332/04, aaO). Daher reicht es anerkanntermaßen aus, diejenigen Sicherheits-vorkehrungen zu treffen, die ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und ge-wissenhafter Angehöriger der betroffenen Verkehrskreise - hier: der Jagdveranstalter und -leiter - für ausreichend halten darf, um andere Personen - hier: Jagdbeteiligte, Reiter, Spaziergänger und Teilnehmer am allgemeinen Straßen-verkehr - vor Schäden zu bewahren, und die den Umständen nach zuzumuten sind (vgl. Senat, Urteil vom 6. Februar 2007 - VI ZR 274/05, aaO, Rn. 15 mwN).
Kommt es in Fällen, in denen hiernach keine Schutzmaßnahmen getroffen werden mussten, weil eine Gefährdung anderer zwar nicht völlig ausge-schlossen, aber nur unter besonders eigenartigen und entfernter liegenden Umständen zu befürchten war, ausnahmsweise doch einmal zu einem Schaden, so muss der Geschädigte - so hart dies im Einzelfall sein mag - den Scha-den selbst tragen (ständige Rechtsprechung, vgl. etwa Senat, Urteil vom 6. Februar 2007 - VI ZR 274/05, aaO, Rn. 16). So liegt der Fall hier.
b) Der Beklagte war nicht verpflichtet, die Klägerin vor den unkontrollierbaren Reaktionen des Pferdes auf ein Schussgeräusch zu schützen.
aa) Dass der Beklagte berechtigt war, die Treibjagd zu veranstalten, wird auch von der Klägerin nicht in Zweifel gezogen. Die bei der Treibjagd zu beachtenden Sorgfaltspflichten konkretisieren u.a. die Unfallverhütungsvorschriften Jagd (UVV Jagd). Zutreffend sieht das Berufungsgericht den Regelungsgehalt der UVV Jagd darin, dass der Veranstalter einer Treibjagd zu vermeiden hat, dass es zu Verkehrsunfällen durch fliehendes Wild beim Überqueren von Stra-ßen kommt sowie dass Jagdteilnehmer und dritte Personen durch Schüsse ver-letzt werden. Insoweit präzisieren die Unfallverhütungsvorschriften das jagdge-rechte Verhalten (vgl. MünchKomm/Wagner, BGB, 5. Aufl., § 823 Rn. 557, 558; Staudinger/J. Hager (2009), BGB, § 823 Rn. E 367, 368 und E 372). Sie regeln dazu jagdliche Verhaltenspflichten, die dem Schutz von Leben und Gesundheit dienen und sind auch außerhalb ihres unmittelbaren Geltungsbereiches Maß-stab für verkehrsgerechtes Verhalten.
bb) Eine allgemeine Verkehrssicherungspflicht des Beklagten, sich in der Nähe des Jagdgebiets aufhaltende Reiter vor Schussgeräuschen, auf die deren Pferde schreckhaft reagieren, zu schützen, ergibt sich daraus nicht. Zwar darf nach der Regelung in § 3 Abs. 4 UVV Jagd ein Schuss erst abgegeben werden, wenn sich der Schütze vergewissert hat, dass niemand gefährdet wird. Die Durchführungsanweisung zu dieser Regelung konkretisiert aber den Begriff der Gefährdung dahingehend, dass eine solche z.B. dann gegeben ist, "wenn Per-sonen durch Geschosse oder Geschossteile verletzt werden können, die an Steinen, gefrorenem Boden, Ästen, Wasserflächen oder am Wildkörper abpral-len oder beim Durchschlagen des Wildkörpers abgelenkt werden oder beim Schießen mit Einzelgeschossen kein ausreichender Kugelfang vorhanden ist". Die Vorschrift will mithin erkennbaren Risiken für Rechtsgüter Dritter durch die direkte Schusseinwirkung vorbeugen. Ihr Zweck ist nicht, Dritte schon vor dem Geräusch eines Schusses zu schützen.
cc) Allerdings enthalten Unfallverhütungsvorschriften ebenso wie DIN-Normen im Allgemeinen keine abschließenden Verhaltensanforderungen (vgl. Senat, Urteil vom 15. Juli 2003 - VI ZR 155/02, aaO, 1319 f., mwN). Gebietet die Verkehrssicherungspflicht den Schutz vor anderen Gefahren als denen, die Gegenstand der Unfallverhütungsvorschrift sind, so kann sich der Verkehrssi-cherungspflichtige nicht darauf berufen, in Ansehung dieser Gefahren seiner Verkehrssicherungspflicht dadurch genügt zu haben, dass er die Unfallverhütungsvorschrift eingehalten hat. Vielmehr hat er die insoweit zur Schadensab-wehr erforderlichen Maßnahmen eigenverantwortlich zu treffen (vgl. Senatsur-teile vom 30. April 1985 - VI ZR 162/83, VersR 1985, 781 und vom 12. November 1996 - VI ZR 270/95, VersR 1997, 249, 250 jeweils mwN).Besondere Maßnahmen zur Warnung vor Schussgeräuschen mussten danach vom Beklagten nicht getroffen werden. Im Allgemeinen begründen Schussgeräusche für sich keine potentielle Gefahr für Rechtsgüter Dritter. Es handelt sich um Lärmbeeinträchtigungen, mit denen allgemein in Waldgebieten gerechnet wird und die hinzunehmen sind. Die Warnpflicht vor solchen Geräu-schen, die individuell sehr unterschiedlich aufgenommen werden, wäre mit einem vernünftigen praktischen Aufwand auch nicht erfüllbar. Die Wirkung von Schussgeräuschen auf Menschen und Tiere ist von vornherein kaum abschätz-bar. Sie ist jedenfalls nur unter besonders eigenartigen und entfernter liegenden Umständen schadensträchtig, so wenn etwa der Schuss in unmittelbarer Nähe des Reiters abgegeben wird. Ein solcher Fall liegt dem von der Klägerin in Be-zug genommenen Urteil des Oberlandesgerichts Saarbrücken vom 30. März 1990 (4 U 63/89) zugrunde.
Hingegen ist im Streitfall nicht festgestellt, dass der Schuss in unmittelba-rer Nähe der Klägerin abgegeben worden sei. Dies wird von der Klägerin auch nicht behauptet. Nach ihrem eigenen Vortrag stürzte sie, nachdem sie nach dem ersten Schuss weiter geritten war und ihr Pferd aufgrund des zweiten Schussgeräusches scheute. Zum Unfall kam es, weil die Klägerin das Pferd nicht beherrschte.
Galke Zoll Diederichsen
Pauge von Pentz
Vorinstanzen:
AG Arnsberg, Entscheidung vom 06.02.2010 - 12 C 499/09 -
LG Arnsberg, Entscheidung vom 26.05.2010 - I-3 S 22/10 -